Klok, klok, klok ... das Schicksal schreitet immer noch voran. Doch jetzt fällt mit erdrückender Wucht die Erinnerung an eine alte Liebe über ihn her. Nur ... er ist jetzt behindert. Wird er es trotzdem schaffen?
Schicksal ... bitte, bitte, bitte! Mach´s ihm nicht so schwer! Klok, klok, klok ...

Jacqueline war vor meinem Unfall zwei Jahre lang meine feste Freundin gewesen, mit ihr war ich sogar verlobt, wollte sie nach der Armee heiraten; sie machte aber Schluss, bevor ich dort entlassen wurde. Allerdings – das redet er sich ständig ein – weil ich selbst daran schuld war; ich trieb sie zum Schlussmachen, erzwungen vor allem durch meine fiese Einstellung im ersten Jahr, die sich auch auf meiner „Erziehung“ im Kindesalter, andere Menschen von vornherein abzuurteilen, begründete. Ich war, obwohl schon 19 Jahre damals, einfach noch nicht reif für eine feste Beziehung, kannte Liebe, die mir da begegnete, noch in keinster Weise, wusste mit diesem Gefühl noch nichts anzufangen. Ich ging sogar fremd, nicht nur, weil wir 300 Kilometer voneinander entfernt wohnten.
Am Ende der Armeezeit wollte ich sie dann zurückgewinnen, doch da kam der Unfall, und der machte mir einen Strich durch die Rechnung. Ihr im Rollstuhl oder an Krücken vor die Augen zu treten, nein, nicht doch. Ergo: Das Vorhaben verschieben, immer wieder, immer wieder und noch einmal, denn erst musste ich mich wieder aufzurappeln, bis ich den Startschuss zum erneuten Buhlen geben konnte. Denn nicht erst jetzt träumte ich von ihr, dachte ständig an sie, ließ keiner Frau neben ihr eine Besteh Chance.
 
Meine Regeneration ist jetzt zwar immer noch nicht befriedigend abgeschlossen, doch die lang herbeigesehnte Chance ist nun schon da, darum muss ich sie auch nun ergreifen; jetzt also schon auf ins Gefecht, jetzt also schon die nach oben immer heller werdende Stange hinauf, jetzt also schon vom grässlichen Dunkel ins lebendige Licht wechseln.
 
                                                                                *
 
Abends in Wohnung eines Bekannten
"Hier ist Mike Scholz." Mehr Worte findet er nicht; er ist jetzt nicht dazu fähig, weitere dem Hörer anzuvertrauen.
       "Mike? Du? Du klingst so merkwürdig!"
       "Is ouch erklärbar. Vor drei Jahren hattch een schwern Verkehrsunfall. Bin aber nimmer im Rollstuhl oder annen Krückn."
       "Oh Gott! Was war denn passiert?"
       Er erzählt ihr davon und auch über seine gegenwärtige Situation.
       „Kannst Du schreiben?“
       "Naja, so einigermaßen. Besser schreibch allerdings mit Schreibmaschine."
       "Das macht doch nichts."
       "Okay. Allerdings werdch mit meier Handschrift unterschreibn. Un würd mich ni wundern, wennch das heutglei tue."
       "Schön. Ich werde wohl auch heute oder morgen schreiben."
       „Ich muss jetzt auflegen - leider, bin ja ni zu Hause. Tschüssi!“
       „Tschüssi!“
 
                                                                            *
 
An seiner Besinnungsstelle, wo er gedanklich abwesend eine Zigarette inhaliert, sein Denken es kreist nur noch um Jacqueline, keine Macht der Welt kann Jacqueline aus seinem Kopf vertreiben, er weiß, seine Liebe zu Jacqueline wird niemals abebben. Jubel durchstreift ihn, Jubel darüber, dass er Jacqueline wiederbekommt
 
"Vielleicht!"
 
Angst, plötzlich Angst, tiefe Angst, schmerzliche Angst:
 
" Was ist, wenn ich es nicht schaffe? Was dann?"
 
                                                                     *
 
23. August. Der Tag, auf den er so lange gewartet hat: Jacqueline kommt.
 
Jacqueline! Jacqueline! Jacqueline!
 
Gegenüber hat ein Wagen gehalten, der gleiche, der gerade an ihm vorbeigefahren war. Die Scheibe an der Fahrertür öffnet sich, der Fahrer sein Kopf? Jacqueline.
Obwohl sie jetzt eine Brille trägt, ist sie immer noch sooo schön. Doch sie blickt ernst, scheinbar abgestoßen, kann es sicherlich noch nicht fassen, dass ich das bin, muss es sich aber eingestehen, denn nichts - leider absolut nichts - lässt sich daran ändern.
Aus seinem Inneren heraus dringt ein Strahlen an die Oberfläche, verstärkt zunehmend die Intensität. Gleichzeitig ballt sich in ihm eine Spannung zusammen, erreicht unermessliche Höhen, weil Jacqueline an dem dazu gehörigen Voltmeter in Richtung Plusmaximum dreht; kurz vor der Explosion steht er, einer Explosion aus dem Glücksgefühl heraus, das ihn augenblicklich alles vergessen und ihn allein auf sie fixieren lässt. Ja alles - wirklich alles -, was er sich je wünschte, scheint nun in Erfüllung zu gehen.
Er tritt auf sie zu; durch die offene Scheibe hindurch umfasst er sie sanft und schmachtend, ein langer Kuss. Himmlisch!! Sie hat immer noch solche man-darin-versinken-könnende weiche Lippen.
 
Sie gewährt ihm das Gefühl und bedeutet ihm danach, ins Auto zu steigen.
                                                                        *
Im Auto sitzend legt er automatisch seine Hand auf ihr Bein und lässt sie dort ruhig liegen.
"He Mike, nimmst du sie dort runter!?"
Oh Gott, tut das weh! Eine beißende Aufforderung, ein Peitschenhieb! Ist an mir noch alles dran?
Er gehorcht widerwillig.
 
                                                                          *
 
Plötzlich schneidet sie das Thema Sein-Unfall an. Darüber zu sprechen widerstrebt ihm eigentlich nicht, aber jetzt ... Heute Abend, am ganzen Wochenende und darüber hinaus über Massakrierungen des Schicksals schwafeln - nein. Amüsieren will er sich mit ihr, amüsieren, ja, und was anderes nicht.
 „Hattest Du ein Wachkoma gehabt?“
"Jaaa." Er misstrauisch, lauernd, denn es klang wie ein Todesurteil. "Das ist aber weg."
"Und was ist mit deinem Zittern?"
Seifiges Glatteis, da kann er nicht sagen, er habe es eliminiert.
Scheinbar paradox, diese Wackelkrankheit: Umso mehr ich die Lähmung wegkicke, umso akuter das Zittern. "Das is leider ni verschwundn, aberich hab - oder besser - ich musses lernen, damit umzugehn."
"Und, wird das noch mal besser? Was sagen die Ärzte dazu?"
Er kommt sich vor wie bei einer Prüfung, wo ihm das Thema nicht behagt; doch er musste es einkalkulieren; darum Augen zu und durch.
"Die Ärzte geben überhaupt keene Prognose mehrab. Sie ham sich schon mal gründich verschätzt, alsse meenten, dasses Leben im Rollstuhl meine Zukunft bedeutet. Zum noch mehr Staunen kamn se dann, alsch anfing, mich vonnen Krückn zu lösn. Seitdem behaltn die ihre Dogmen für sich. Ihn is nämlich klargewordn, dass ich ni zun Normalfällen gehör."
"Hm! Ich hätte sowieso nie Zweifel daran gehabt, dass du wieder hochkommst. So wie du kämpfst, gehst du doch über Leichen."
 
                                                                  *  
Die Straße. Er tritt auf sie. Im gleichen Moment startet Jacqueline das Auto. Ungefähr dreißig Meter von ihm entfernt. Und ruckt an. Legt den ersten Meter zurück. Den zweiten. Kommt immer näher. Genau auf ihn zu. Mike bleibt stehen. Der Abstand zwischen ihnen hat sich halbiert. Wird sie ihn umfahren? Es ist ihm egal.
 
Sie hält an. Einen halben Meter vor ihm. Er geht zur Beifahrertür und steigt ein.
"Hast du gedacht, ich fahre dich über ‘n Haufen?"
Lächeln. Müde: "Absolut ni."
Jacqueline fährt los.
 
                                                                    *
Sie haben das Auto in einer Nebenstraße von ihm geparkt. Als der Wagen stillsteht, rückt er auf sie zu und bittet um einen Kuss.
       "Den kriegst du, wenn mir danach ist! Jetzt hau ab!"
 
                                                                     *
Mikes Wohnung
„Mike, sag mal, wie kann das sein: Früher bin ich dir nachgelaufen ..."
       "... und jetzt louf ich dir nach!“
       "Ja, genauso ist es. Aber wie kann das plötzlich so kommen?"
     "Naja, am Anfang has du mich geliebt, jetz ich dich. Ich hab sehr schnell - nach unser Trennung - gemerkt, wass ich eigentlich verlorn hab. Folglich habich - was zwar unfair war, sich aber ni ändern ließ - jees Mädchen, das ich kennenlernte, mit dir verglichn. Un keene kam dabei gut weg!"
Sie lacht - bitter? "Oh, welche Ehre für mich. Aber das, was du mir damals angetan hast, um meine Liebe zu Dir zu untergraben, ist nicht so leicht zu verdauen. Ich brauche Zeit dazu!"
       "Und, wie is die Tendenz?"
       "Ich weiß es nicht."
       "Sammal, kennste die Fabel vom Reiher unner Reiherin?"
       Kopfschütteln.
       "Ein Reiherehepaar stritt sich übelst. Jeder wollte recht ham, keiner gab nach. Schließlich trennten sie sich. Aber dann kamer Reiherin die Reue. Sie gerittin Zweifel, obse eientlich recht gehabt hatte. Und so gingse zum Reiher, lenkte ein, versuchte, ihn wiederzubekommn. Der Reiher aber blieb bei seim 'Nein'. Daroffhin zog sie tieftraurig un gekränkt wieder ab. Doch jetzt kamem Reiher die Einsicht. Folglich wanderte er zu ihr und versuchte, sie umzustimmen. Aber nun zeigte sie sich vonner sturen, unnachgiebigen Seite; er musstes Terrain wieder verlassn. Plötzlich wurd ihr wieder klar, wasse eientlich vollbracht hatte. Und sie lief wieder zu ihm, doch ohne Erfolg. Un so weiter und so fort. Un wenn sie ni gestorben sind, wandern undickschen sie noch heute."
 
                                                                   *
An seiner Besinnungsstelle, wo er gedanklich abwesend eine Zigarette inhaliert. Er weiß nun, er muss sich seinem Charakter annähern, dem von früher, wieder. Und dazu er muss sich auch die Zwangslast, Jacqueline wiederzubekommen, von den Schultern reißen, wieder. Auch hofft er, dass Harmonie aufkeimt, wenn sie die nächste Nacht in der Gebirgspension verbringen. Wieder.
       Und wenn nicht - Pech gehabt. Der weibliche Anteil an der Gesamtbevölkerung der Erde umfasst ungefähr 55%. Also ...
 
                                                                    *
Am nächsten Morgen.
Nach einer Weile, in der sie sich halb sträubt halb anschmiegt und noch kein Wort der Erklärung über ihre sinnlichen Lippen gebracht hat, er hält die Ungewissheit nicht mehr aus und fragt sie, warum sie so bedrückt ist.
       Kopfschütteln.
       "Kann ich dir irgendwie helfn?"
       Kopfschütteln.
       "Sollich dich loslassn?"
       "Ja!"
Dabei … der Kopf. Etwas Feindliches glitzert in ihr.
 
Ihre Augen, ihr Gesicht: Veränderung, Wandlung, sie ruckt durch ihre Züge. Ihr Kopf er hebt sich nun völlig, ihre Schultern sie straffen sich, ihr Blick er starrt nicht mehr irgendwo hin, sondern er ist wieder mit Leben erfüllt. Wenn auch schwarz, schwarz wie die Abgründe der dunkelsten Nacht, als wenn sie irgendwelche Geister beschworen hat, die sich mit der zerstörend grausamen Finsternis im Bunde auf sie herabgesenkt haben. Dann: Ein Schatten huscht über ihre Wangen - eine Entscheidung sie hat sich soeben zu einer durchgerungen: "Ich hau ab! Ich mache heim!"
       Mike will sich nicht sicher sein, dass er richtig gehört hat. "Was?", fragt er deshalb. "Was?", haucht er nach. "Was?", schrillt es in ihm. Übermächtig. Erschreckend. Entblößend.
       "Ich hau ab, ich mache heim!"
 
                                                                              *
Ich habe wieder versagt. Deswegen es ist sonnenklar: Ich bin ein notorischer Versager! Es gibt Gewinner und es gibt Verlierer; und ich -   wohin ich gehöre – ich gehöre zu den Verlierern.
 
Seine Stube. Die Rosen, ihr Bild an der Wand, ihr Duft, der noch in der Luft schwebt - alles, ja, alles, Jacqueline war hier. Mike greift sich einen Stuhl, stellt ihn ans Fenster, steigt auf das Fensterbrett, legt das rechte Knie in die frische Luft hinaus …
 
Er schaut sich noch einmal um. Einen wunderschönen lauen Sommertag hat er sich für seinen Abschied ausgesucht.
 
       Dann wieder Blick auf das Ziel: Unten. Die Straße. Die Bordsteinkante. Die Hecke ... Eine Hecke, zwischen mir und dem Erdboden?
 
Hier könnte ich auch überleben!
 
Er zieht sein Bein wieder zurück.
       Dafür der Küchenschrank. Ein Messer. Auf den Stuhl.
       Keine Denkpause. Keine. Er tastet sein Handgelenk ab. Doch .. Stille dort.
       Was ...
       Aber am Ellbogen pocht es. Messer drauf – ratsch
Es blutet!
     Aber nicht pulsierend. Messer zu stumpf?
 
       Ein scharfes er sucht nach einem. Findet. An seinem Hals. Puls. Messer dort. Ratsch  Und noch einmal – ratsch
Blut wabert hervor, er fühlt, wie es langsam am Bauch hinunterrinnt.
Mike er lehnt sich zufrieden zurück.
 
Mike, kämpfe weiter! Du darfst nicht aufgeben! Vor allem jetzt, wo du siehst, dass du ihr nicht egal bist! Alles, was du geschafft hast, tatest du doch nur für sie! Du hast dich doch aus dem Rollstuhl hochgerappelt, um wieder zu ihr zurückkehren zu können! Was ist, wenn du kein Ziel mehr hast? Was ist, wenn für dich kein Sinn mehr im Leben besteht? Jeden letzten Funken Hoffnung, der in dir schwelt - und diese Hoffnung ist noch nicht erloschen, dort drüben in der Ecke ganz verschämt steht sie da - musst du ergreifen, dich an ihm hochziehen, durch ihn den Sinn deines Lebens wiedererlangen! Hoffnung ist doch das, was euch Menschen am Leben erhält. Also Du musst um sie weiterkämpfen!